KULTURELLE ANEIGNUNG: DER NEUE ZEITGEIST UND DIE ALTE ERBSÜNDE

KULTURELLEANEIGNUNG:

DER NEUEZEITGEIST UND DIE ALTE ERBSÜNDE

von Maryam Laura Moazedi

 

Identität ist ein gefährliches Wort. So der Historiker Tony Judt, auf den der Wunsch, sich indem Begriff zu baden stets eine befremdliche Wirkung hatte. Nationale und andere Identitätsetikettierungen lösten in ihm Unbehagen aus, schließlich entstünde dieses Wir durch den Reflex der Ab-, allen voran, Ausgrenzung eines situativdefinierten „Anderen“. Ein verlockender Ansatz, zumal ein willkommenes Abfallproduktder kollektiven Identität ein euphorisierendes Wir-Gefühl ist, das emotionalisiert und mobilisiert, zugleich ein Zugang, der mit bipolaren Gruppenanordnungen arbeitet, Kulturen als geschlossene Systeme sieht.

Diese Geschlossenheit und die daraus resultierende Trennung von Wir und Ihr, Eigenem und Fremden ist auch ein Aspekt der Identitätspolitik und deren Konzept der kulturellen Aneignung. Der Ausgangspunkt: Güter benachteiligter Kulturen werden in einen fremden, dominanten, sprich „weißen“, Kontext gesetzt,instrumentalisiert und kommerzialisiert. Die mächtige Kultur profitiert, eignet an, enteignet, stiehlt von den Machtlosen. Die Herleitung des Gedankens ist vordem Hintergrund kolonialer und postkolonialer Prozesse und Zustände unschwer zu verstehen, nicht so jeder Versuch, diesen in die Praxis zu projizieren. Es zeigen sich Grenzverschiebungen nach Laune und Zeitgeist, Streit um die Deutungshoheit, wenig konstruktive Rückmeldungen, ein nervöses Mit-, oder eher,Gegeneinander.

Der Vorwurf des Anekdotischen wird laut, Befürworter:innen meinen, Kritiker:innen würden Einzelfälle anstrengen, um ihren Standpunkt zu erklären. So einzeln erscheinen diese in Summe nicht, denn der Transfer in die reale Welt ist kein geradliniger,der Mensch und seine Lebenswirklichkeit zu komplex für die schlichte Einteilungin Gut-Böse, Privilegiert-Entmachtet, Schwarz-Weiss und andere Dualismen.

Eine Regisseurin behandelt in ihrem Film die Unruhen von Detroit der Neunzehnsechzigerjahre mit dutzenden Toten, hunderten Verletzten, der Großteil der Opfer ist schwarz. Ihr Anliegen ist es, ein dunkles und weitgehend unbekanntes Kapitel der US-amerikanischen Geschichte zum Thema der breiten Öffentlichkeit zu machen,Diskussion und Dialog über Rassismus in Gang zu setzen. Im Vorfeld führt sie Gespräche mit Überlebenden, Zeit ihres Lebens zeigt sie sich insozio-politischen Fragen engagiert. Es gibt Kritik. Und diese gibt es nicht etwa wegen des Films per se, auch nicht wegen ihrer Persönlichkeit oder etwaigen Skandalaussagen aus der Vergangenheit, die ans Licht gekommen wären, die es auch nie gab. Nein. Ihre Pigmentierung stört und verstört in diesem Setting.Als weiße Frau stünde es ihr prinzipiell nicht zu, einen Film über Rassismus zudrehen. Sie würde schwarzen Schmerz mit weißen Augen betrachten und sich die traumatischen Erfahrungen Schwarzer aneignen – also Diebstahl, Ausbeutung und was sonst noch dazugehört.

Der Mensch wird auf die Hautfarbe reduziert, Hautfarbe zur Determinante einer Positionierungspraxis mit unbeweglichen Grenzziehungen zwischen Schwarz und Weiß… Schwarz-Weiß zum Symbol für Recht und Unrecht, Verbot und Gebot, Opfer und Täter… Opfer und Täter zu Antagonisten in einer Welt, die nur Entweder-oder kennt – zwei Kategorien als Identifikationsangebote und das Ausschlussprinzip. Die Zuordnung erfolgt nolens volens, aus der Hautfarbe werden alle notwendigen Informationen extrahiert: Hoch lebe die Überschaubarkeit und Loslösung von jedweder Komplexität und Intersektionalität, sowie Individualität. Denn das Individuum hat ausgedient, repräsentiert und symbolisiert mit seiner Haut “ein“ Kollektiv,damit auch des einen Leid und des anderen Sünden. Mit dieser Fixierung werden Positionen verhärtet und Rollen perpetuiert, die Lösungsorientierung tritt in den Hintergrund, die Vorstellung von Sippenhaftung und Kollektivschuld in den Vordergrund.

Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Anschlusses Österreichs gedenkt Viktor Frankl in seiner Rede der Opfer der NS-Zeit, im speziellen seines Vaters, seines Bruders,seiner Mutter, seiner ersten Frau. Er bittet um Verständnis, dass keine Worte des Hasses folgen würden. Denn eine kollektive Schuld, die Forderung, sich für etwas schuldig zu fühlen, das man selbst nicht getan habe, lehnt er ab. Siewürde bloß Menschen in die Arme der Gegenseite treiben. De facto gebe es nur zwei Sorten Mensch: Anständige und Unanständige. Die eigentliche Gefahr, so Frankl,würde darin liegen, dass politische Systeme es ermöglichen, die Unanständigen an die Oberfläche zu schwemmen. Er schließt die Rede mit der Forderung, dassalle, die guten Willens sind, einander die Hände entgegenstrecken, über alle Gräber und Gräben hinweg.

So versöhnliche Worte wirken heute vor dem Hintergrund des im Trend liegenden Moralismus nahezu naiv. Filme über Rassismus, schwarze Superhelden, Dreadlocks, Sushi … wer darf sie machen, zeichnen, tragen, essen? Der gestrenge Zeigefinger ist erhoben, Entrüstung das neue Stilmittel. Die Gesellschaft fragmentiert, der Dialog verengt, die Rede von Identität und Privileg wird zum Selbstzweck, die Solidarität erodiert.Wer „weiß“ ist darf sich nicht gegen Rassismus stark machen, weil weiß. Anders formuliert: Ein gemeinsamer Kampf für die einzig anzustrebende Zukunft, soll heißen, eine Zukunft für alle, frei von Rassismus und anderen -ismen, ist nicht gewollt. Dass damit die Lähmung vieler Menschen einhergeht, die Antidiskriminierung leben, scheint als Kollateralschaden hingenommen zu werden. Denn deren Hautfarbe darf nicht übersehen werden.

Der Ansatz rückt damit in die Nähe eines Gedankenguts, in dessen Nähe es nicht rücken wollen sollte. Der Alltag wird rassifiziert, der Konflikt bekommt eine biologische Determinante. Auch die Perzeption von Kulturen als geschlossene Systeme hat einen unschönen Beigeschmack, da sie deren sogenannte Reinheit impliziert, wenn von Aneignung, Diebstahl, Eigenem und Fremden die Rede ist. Aber Kultur entsteht niemals in einem Vakuum, sondern lebt von der Berührung von Fremdem, entsteht durch das Aneinander- und Ineinander geraten. Sie ist porös, für das Andere empfänglich, nicht monolithisch und in immerwährender Bewegung. Und eben diese Bewegung führt ironischerweise auch die Identitätspolitik nach Europa, wo sie begeistert angeeignet wird, mitsamt der US-zentrischen Diktion, Sicht und Problematik.

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