Der Vertrag von St. Germain - Univ.- Prof. Dr. Anita Ziegerhofer

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Bericht zum Vortrag von Frau Univ.-Prof. Dr. Anita Ziegerhofer im Rahmen des ersten Clubabends des heurigen Jahres: "Der Vertrag von St. Germain"

Der Vertrag von St. Germain[1]

Univ.-Prof.Dr. Anita Ziegerhofer

 

In den Herbsttagen des Jahre 1918 überschlugen sich die Ereignisse: Am 30. Oktober 1918 rief die Provisorische Nationalversammlung die Republik Deutschösterreich aus, dieses Datum gilt als Geburtsstunde der Republik. Am 3. November 1918 unterzeichnete Kaiser Karl in der Villa Guisti/Padua den Waffenstillstand. Am 11. November legte er seinen Anteil an den Staatsgeschäften zurück. Damitendete die Monarchie. Am nächsten Tag trat das Abgeordnetenhaus zu seiner letzten Sitzung zusammen, sodass am Nachmittag die Republik Deutschösterreich ausgerufen werden konnte. Die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung waren für den 16. Februar 1919 festgesetzt, erstmals durften auch Frauen an dieser Wahl teilnehmen. Die neugewählte Nationalversammlung hatte zwei wesentliche Aufgaben: Die Ausarbeitung einer Verfassung und den Abschluss des Friedensvertrages.

Die Friedensverhandlungen wurden am 18. Jänner 1919 in Paris durch Staatspräsident Raymond Poincaré eröffnet. Der Eröffnungstag war bewusst gewählt worden. 48 Jahre zuvor war am 18. Jänner 1871 im Spiegelsaal von Versailles die deutsche Kaiserproklamation erfolgt (Vgl. zu den Friedensverhandlungen ausführlich MacMillan, Die Friedensmacher oder Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden). Am 18. Jänner 1919 blickte die Welt schließlich nach Paris, wo der Frieden mit den fünf Verlierern: Deutschland, Österreich, Bulgarien, Ungarn und dem Osmanischen Reich verhandelt werden sollte. Der französische Premierminister Georges Clemenceau fungierte gemeinsam mit dem britischen Premierminister David Lloyd George und dem US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson als Präsident der Pariser Friedenskonferenz. Die Friedensdelegationen waren teilweise isoliert in den Pariser Vororten untergebracht und warteten auf die Entwürfe, die aus Pariskamen. Ein gemeinsames Verhandeln war von Anfang an nicht vorgesehen – alle Verliererstaaten wurden angehalten, ausschließlich schriftlich zu verkehren.Rückblickend gesehen besteht kein Zweifel, dass es sich bei den Friedensverordnungen um Diktate und quasi um Bestrafungsaktionen gehandelt hat(Vgl. zu den Friedensverhandlungen ausführlich MacMillan, Die Friedensmacher oder Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden).

Die alliierten und assoziierten Mächte bemühten sich, den Friedensvertrag mit Deutschland relativ rasch abzuschließen. Dieses Ziel wurde am 28. Juni 1919 erreicht. Nach der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles folgte in weiteren zeitlichen Abständen die Unterzeichnung der Verträge von St. Germain-en-Laye mit Österreich (10. September 1919), Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien (27. November 1919), Trianon mit Ungarn (4. Juni 1920) und Sévres mit dem Osmanischen Reich (10.August 1920). Letzteres war übrigens der einzige Verliererstaat, der sich den Friedensbedingungen der Siegermächte widersetzte und mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 einen neuen Vertrag ausverhandelte (Vgl. dazu allgemein Banken, Die Verträge von Sèvres). Durch die Pariser Vororte-Verträge war die imperiale Ordnung, für die das Deutsche Reich, die österreichisch-ungarische Monarchie, Russland und das Osmanische Reich bislang standen,zerfallen und die europäische Landkarte vollkommen verändert worden.

Die österreichische Friedensdelegation

Die österreichische Delegation unter Karl Renner traf am 14. Mai in Saint-Germain-en-Laye ein. Renner ging davon aus, dass er die Siegermächte von dem rechtlichen Selbstverständnis des neugegründeten Staates überzeugen könne: Deutschösterreich betrachtete sich demnach nicht als Rechtsnachfolger des Kaisertums Österreich und konnte somit auch nicht für die Kriegsfolgen zurVerantwortung gezogen werden. Allerdings hatten diese Darlegung, der freiwillige Rücktritt von Otto Bauer im Juli 1919 sowie das Beharren der österreichischen Friedensdelegation, den Friedensvertrag nicht als solchen bezeichnen zu wollen, sondern einfach als Vertrag bzw. Staatsvertrag, keinen Einfluss auf den Verhandlungsfortgang (Hafner, Der Staatsvertrag, 105-107; zur Gründung von Deutschösterreich etwa Olechowski, Hans Kelsen, 226-234).Österreich musste sich dem Diktat der Friedenskonferenz beugen. Doch zurück in die Maitage des Jahres 1919. Erst am 29. Mai erhielt die Friedensdelegation die Nachricht aus Paris, dass man die Republik Deutschösterreich ausschließlich unter dem Namen „Republik Österreich“ anerkennen werde und am 31. Mai teilte man der Delegation mit, dass „keine mündlichen, sondern nur schriftliche Verhandlungen zugelassen seien“ (Deutschösterreichische Friedensdelegation 1919, S. 7). Am 2. Juni 1919 erfolgte die Übergabe des „ersten Teils“ der Friedensbedingungen im Schloss von Saint-Germain-en-Laye. Der Entwurf, der wie die folgenden in den Sprachen Französisch, Englisch und Italienisch verfasst war,machte ein Treffen von Staatskanzler Renner mit dem Präsidenten der Nationalversammlung Karl Seitz, Vizekanzler Jodok Fink und dem Staatssekretär für Äußeres Otto Bauer notwendig. Dieses fand bereits am 3. Juni 1919 in Feldkirch/Vorarlberg statt. Alle Anwesenden kamen überein, „daß Deutschösterreich unter solchen Bedingungen nicht leben könne“ (Deutschösterreichische Friedensdelegation 1919, S.8). Am 20. Juli 1919 wurde der zweite überarbeitete Text der Friedensbedingungen mit einer Beantwortungsfrist von zehn Tagen übermittelt.Schließlich erfolgte die Überreichung des endgültigen Textes der Friedensbedingungen am 2. September 1919. Renner reiste nach Wien, um sich am 5. September mit dem Hauptausschuss der Nationalversammlung über den Friedensvertrag auszutauschen und am Tag darauf von der ordentlichen Sitzung der Nationalversammlung die Ermächtigung zur Unterzeichnung des Friedensvertrages erteilen zu lassen. Diese beschloss am 6. September, denVerlauf und die Ergebnisse der Verhandlungen von St. Germain zur Kenntnis zunehmen und ermächtigte mit Stimmenmehrheit Renner zur Unterzeichnung des Vertrages. Am 10. September 1919 um elf Uhr vormittags unterzeichnete der Staatskanzler im Steinzeitsaal von Schloss Saint Germain-en-Laye als Erster denVertrag. Der Vertrag trat nach dem Ratifikationsverfahren am 16. Juli 1921 inKraft (StGBl303/1919). Da der US-Senat die Ratifikation des Vertrages verweigerte, konnte der Kriegszustand Österreichs mit den USA erstdurch einen Separatfrieden am 24. August 1921 offiziell aufgehoben werden (BGBl643/1921; sowie Schröder, Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain1919–1920, S. 347). Letzterer trat am 8. November 1921 in Kraft und bot den USA alle im Vertrag von St. Germain zugunsten der USA „ausbedungenen Rechte und Vorteile“(Schröder, Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain 1919–1920, S. 348),obwohl die Vereinigten Staaten den Friedensvertrag nicht ratifiziert hatten.Somit war dieser Vertrag zwischen Österreich und den USA ein „Vertrag der Vorteile ohne Verpflichtungen seitens der USA“ (Schröder, Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain 1919–1920, S. 348).

Der Vertrag von St. Germain – ausgewählte Artikel

Der Vertrag von St. Germain besteht aus 14 Teilen und 381 Artikel.[2]

Durch den Vertrag von St. Germain erlitt Österreich einen enormen Gebietsverlust. Die Habsburgermonarchie umfasste 1910 676.614 km2 mit knapp 52 Millionen Menschen. Sie wurde auf rund 6,5 Millionen Menschen reduziert, die nunmehr inder neuen Republik Österreich auf knapp 84.000 km2 lebten (Arnold Suppan, Saint-Germain-en-Laye 1919, S. 25-26‘). Die Habsburgermonarchie löste sich Ende Oktober/Anfang November 1918 innerhalb weniger Tage auf: Am 28.Oktober wurde der tschechoslowakische Staat ausgerufen, am 29. Oktober der Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat), am 30. Oktober die Republik Deutschösterreich und am 31. Oktober Ungarn, das am 2. November seine Unabhängigkeit von Österreich erklärte (Suppan, Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas, 1257-1341). Die neu entstandenen Staaten waren in der Hoffnung auf Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts, das Woodrow Wilson in seinem 14- Punkte-Programm gefordert hatte, zustande gekommen. Wilson verstand unter Selbstbestimmung eine Art Selbstregierung im demokratischen Sinne, um so die Entstehung autoritärer Staaten verhindern zu können (Kalb, Minderheitenschutzrechte, S. 344). Die Schaffung von souveränen Staaten hatte für Österreich eine neue Grenzziehung zur Folge,die sich im Vertrag von St. Germain (Teil II Österreichs Grenzen, Art. 27-35)niederschlägt. In der neugegründeten Tschechoslowakei wollte die deutschösterreichische Regierung in jenen Provinzen, die sich als Teil von Deutschösterreich bzw.Deutschland (Deutschböhmen, Sudetenland, Böhmerwaldgau und Südmähren)verstanden, Plebiszite durchführen (Suppan, Imperialistische Friedensordnung,S. 1267-1268). Doch scheiterte die Idee und bereits im April 1919 bestätigten die „Big Four“ diese Grenze (Suppan, Imperialistische Friedensordnung, S. 1274),die schließlich im Vertrag von St. Germain festgelegt wurde.

Die Grenzziehung zwischen Österreich und dem SHS-Staat, gestaltete sich entsprechend konfliktreich (Suppan, Jugoslawien und Österreich 1919-1938, S. 602-656). Im Einvernehmen mit den Landtagen in Graz und Klagenfurt verlangte das Wiener Parlament in der Untersteiermark die Einbeziehung des Laufes der Drau und in Kärnten die Karawankengrenze. Demnach waren in der Frage der künftigen staatlichen Zugehörigkeit elf steirische und dreizehn Kärntner Gerichtsbezirke umstritten (Suppan, Imperialistische Friedensordnung, S. 1297). Die Frage hinsichtlich des Verbleibes der Untersteiermark bei Österreich war bereits am 1.November 1918 geklärt, als durch den ehemaligen k.u.k. Major und nunmehrigen General Rudolf Maister die handstreichartige Einnahme von Marburg erfolgte. Es wurde kein Widerstand geleistet, da man dem „Diktat des leeren Magens“ folgte:Der neugegründete SHS-Staat drohte mit der Blockade von Lebensmittellieferungen nach Österreich (Moll, Die „blutende“ Wunde, S.297). Als die am 20. Jänner 1919unter der Führung des US-amerikanischen Generals Sherman Miles konstituierte gleichnamige Kommission am 27. Jänner 1919 in Marburg eintraf, kam es zu Kämpfen zwischen Slowenendeutschen und SHS-Soldaten (Marburger Bluttag). In Paris maß man der Abtrennung der ehemaligen Untersteiermark wenig Bedeutung bei, man nahm sogar die Trennung der Stadt Radkersburg in Kauf (Moll, Die „blutende“ Wunde, S.300-305). Anders verhielt es sich mit Unterkärnten. Hier erfolgte Anfang Dezember 1918 dieBesetzung von Völkermarkt durch jugoslawische Truppen, was in weiterer Folge zumilitärischen Aufmärschen auf beiden Seiten und zum Kärntner Abwehrkampf führte(Wutte, Kärntens Freiheitskampf, S. 58-123; Suppan, ImperialistischeFriedensordnung, S. 1298). Die Siegermächte entschieden für Kärnten die Abhaltung einer Volksabstimmung unter der Leitung des Völkerbundes. Das betroffene Gebiet wurde in Zone I (Völkermarkt, unter Verwaltung des SHS-Staates) und Zone II (Klagenfurt, unter österreichischer Verwaltung)eingeteilt. Schließlich stimmten am 10. Oktober 1920 59,04 Prozent in der ZoneI für einen Verbleib Unterkärntens bei Österreich, somit konnte diese Region am 18. November 1920 unter die staatliche Souveränität Österreichs gestellt werden(Suppan, Imperialistische Friedensordnung, S. 1305). Das Mießtal und die Gemeinde Seeland gingen an Jugoslawien, das Kanaltal an Italien.

Am Tag der Kärntner Volksabstimmungen, dem 10. Oktober 1920, erfolgte die offizielle Übergabe von Südtirol an Italien. Dieser territoriale Verlust war wohl der schmerzhafteste Verlust für Gesamtösterreich. Bereits im Londoner Geheimabkommen aus dem Jahr 1915 zwischen Italien auf der einen sowie Frankreich, Großbritannien und Russland auf der anderen Seite wurde der Brenner als neue Grenze festgelegt; dies war ein Zugeständnis für Italiens Kriegseintritt. Wilson benötigte für die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes und die Gründung des Völkerbundes die Zustimmung seiner Kriegspartner, weshalb er im Jänner 1919 den Italienern die Brennergrenze konzedierte und später auch in die Abtretung von Teilen des Hochpustertales einwilligte (Dotter, Die Tiroler Frage, S. 353). Trotz Widerstand und dem Pochen auf das Selbstbestimmungsrecht, wurde Südtirol Italien zugeschlagen und mit dem Annexionsgesetz vom 26. September 1920 rechtlich fixiert.

Trotz der territorialen Verluste war Österreich das einzige Land unter den Besiegten,das ein Territorium dazu bekam, nämlich Westungarn bzw. das heutige Burgenland.Die neue Grenze wurde sowohl im Vertrag von St. Germain als auch im Vertrag vonTrianon mit Ungarn (4. Juni 1920) festgelegt. Als Ende August 1921 die österreichische Gendarmerie ins zukünftige Burgenland einrücken wollte,leisteten ungarische Freischärler Widerstand – es folgten schwere Gefechte. Als Vermittler trat Italien auf und Mitte Oktober 1921 hatte man sich im „Venediger Protokoll“ geeinigt, in Ödenburg/Sopron sowie den Umlandgemeinden eine Volksabstimmung durchzuführen. Diese fand vom 14. bis 16. Dezember 1921 statt, 72Prozent der Wahlberechtigten in Ödenburg stimmten für einen Verbleib bei Ungarn, in den Umlandgemeinden hatten 54,6 Prozent für Österreich gestimmt(Lein, Die „Burgenlandnahme“, S.41). Am 1. Jänner 1922 kam es zur Übergabe der Stadt Ödenburg an Ungarn, die seit diesem Zeitpunkt den amtlichen Namen Sopron führt.

Durch die Gebietsverluste ergaben sich Migrationsbewegungen – viele Menschen deutschsprachiger Abstammung fanden sich in neugegründeten Nationen als sprachliche Minderheit wieder. Daher war es ein zentrales Anliegen von Woodrow Wilson gewesen, einen internationalen Minderheitenschutz aufzubauen, umso ein Stabilisierungssubstitut mit dem Ziel der Konfliktprävention zu schaffen(Kalb, Minderheitenschutzrechte, S. 345). Aber Wilson war es weder gelungen, einen Minderheitenschutz in die Völkerbundsatzung aufzunehmen, noch einen kollektiven Minderheitenschutz durchzusetzen. Vielmehr errichtete die Pariser Konferenz das folgende System zum Schutz der Minderheiten: 1. Minderheitenschutzbestimmungen in den Friedensverträgen, 2. Abschluss von Minderheitenschutzverträgen, 3.Minderheitenschutzerklärungen als Voraussetzung für die Aufnahme in den Völkerbund und 4. bilaterale Verträge (Kalb, Minderheitenschutzrechte, S. 346).Als Mustervertrag galt der zwischen Deutschland und Polen am 28. Juni 1919 abgeschlossene Minderheitenvertrag, der auch als „kleiner Versailler Vertrag“ bezeichnet wird. In diesem Vertrag war u. a. vorgesehen, dass der Minderheitenschutz dem(damals noch zu gründenden) Völkerbund übertragen werden sollte. Art. 14 derSatzung sah die Gründung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofes vor, der dann schließlich auch 1924 gegründet und in weiterer Folge mit diesen Fragen befasst wurde (Kalb, Minderheitenschutzrechte S. 350-351).

Der Art. 88, das ist der sogenannte „Anschluss“-Artikel, gehört zu den bekanntesten und umstrittensten Artikeln des Vertrages von St. Germain. Da die Unabhängigkeit Österreichs nach allen Seiten hin aufrechterhalten werden musste, findet man in diesem Artikel weder die Nennung „Deutschland“ noch „Deutsches Reich“ (Olechowski, Das„Anschlussverbot“, S.393). Im Jahr 1921 wurden sowohl in Tirol (24. April) wie auch in Salzburg (29. Mai) Plebiszite durchgeführt mit dem Ergebnis, dass rund 99 Prozent der TeilnehmerInnen für einen „Anschluss“ ihres Landes an das Deutsche Reich votierten. Ein Vollzug dieser Ergebnisse hätte die Abspaltung von Österreich zur Folge gehabt. Jedenfalls übten die Siegermächte auf die österreichische Bundesregierung Druck aus, um weitere Volksabstimmungen zu unterlassen (Olechowski, Das „Anschlussverbot“, S. 381-382). In der Folge nahmdie Intensität der diesbezüglichen Bestrebungen ab. In wirtschaftlicher Hinsicht spielte das Anschlussverbot 1931 im Zusammenhang mit der Schaffung einer deutsch-österreichischen Zollunion eine Rolle.

Die Siegermächte einigten sich darauf, dass die Verliererstaaten für die Kriegsschulden aufzukommen hatten, wobei die Hauptlast der Schulden Deutschland überantwortet wurde. Österreich wurde in Art. 177 von den alliierten und assoziierten Mächten „gemeinsam mit seinen Verbündeten als Urheber für die Verluste und Schäden verantwortlich“ gemacht und zu Reparationszahlungen verpflichtet (VIII. Teil Wiedergutmachungen). Im Vertrag von St. Germain wurde die Summe der Reparationszahlungen nicht genannt, dafür war eine eigene Reparationskommission vom alliierten Botschafterrat eingesetzt worden. Die Ratenzahlung war zunächst auf 30 Jahre beginnend mit 1. Mai 1921 festgesetzt worden(Art. 179). Bis dahin musste Österreich Vorauszahlungen leisten (Art. 181),auch diesbezüglich wurde die genaue Summe nicht festgelegt (sehr detailliert: Rathmanner, Die Reparationskommission, S. 77; Rathmanner, Kommissionen, S.104-112). 1921 erfolgte eine Stundung auf 20 Jahre und schließlich 1929 der Verzicht auf Zahlung der Reparationen.

Woodrow Wilsonwar es gelungen, die Satzung des Völkerbundes als ersten Teil aller Friedensverträge zu platzieren. Damit war die Mitgliedschaft beim Völkerbund für die Verliererstaaten verpflichtend. Österreich trat im Dezember 1920 dem Völkerbund bei. Im Vertrag von St. Germain findet sich auch die Satzung der International Labour Organization (ILO). Auch dieser internationalen Organisation, die heute einen Teilorganisation der UNO ist und 1969 den Friedensnobelpreis erhielt, mussten die Verliererstaaten beitreten. Auf ihrer ersten Tagung im Oktober 1919 in Washington hatte man einstimmig Österreich als Mitglied aufgenommen. Der Beitritt erfolgte am 28. Mai 1920.

Was heute noch an St. Germain erinnert sind ua neben der Grenzziehung und dem Staatsnamen die Rechte für sprachliche und religiöse Minderheiten – auch wenn diese bereits verfassungsrechtlich unbedeutend sind und durch den Wiener Vertrag von 1955 und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ersetzt wurden (Kalb, Minderheitenschutzrechte, S. 369). Positiv hervorgehoben werden kann auch die verpflichtende Mitgliedschaft Österreichs beim Völkerbund und bei der ILO, wodurch die junge Republik die Möglichkeit erhielt, als neuer Staat international reüssieren zu können. Die Pariser Vertragswerke können als „Impulsgeber für künftige Rechtsentwicklungen auf internationaler Ebene betrachtet werden“ (Pippan, Die völkerrechtlichen Konsequenzen, S. 513), etwa durch die Institutionalisierung der Staatengemeinschaft im Völkerbund.

Grenzziehung,Anschlussverbot, Reparationszahlungen und Minderheitenfrage bildeten eine schwere Hypothek, die einen großen Schatten auf die junge Republik Österreich warf und anstelle von Frieden Konflikte verursachte. Nicht nur der Vertrag von St. Germain, sondern alle Vororte-Verträge waren Ausdruck dessen, was realpolitisch möglich war (Helmut Konrad, Die Neuordnung Europas und der Welt 1919-1922, in: Hafner et. al, Probleme und Perspektiven des Volksgruppengesetzes, S. 75).  

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Dieser Beitrag gibt einen Einblick in das FWF-Forschungsprojekt (P-29774) über die rechtliche Bedeutung des Vertrages von St. Germain. Das Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW wird von Anita Ziegerhofer geleitet. Siehe dazu: Herbert Kalb/Thomas Olechowski/Anita Ziegerhofer (Hrsg.), Der Vertrag von St. Germain. Kommentar, Wien 2021.

[1] Der folgende Text ist eine stark gekürzte Zusammenfassung des Beitrages von Anita Ziegerhofer, GundaBarth-Scalmani, Andrea Leonardi, Brigitte Mazohl, Oswald Überegger (Hg.), Tirol(o 1919/20. Nationalismen, neue Grenzen, technologische Entwicklungen/ Nazionalismi, nuovi confini, sviluppo tecnologico, Innsbruck 2022.  

[2] I.Völkerbundsatzung; II. Österreichs Grenzen; III. Politische Bestimmungen über Europa; IV. Außereuropäische Interessen Österreichs; V. Land-, See- und Luftstreitkräfte; VI. Kriegsgefangene und Grabstätten; VII. Strafbestimmungen;VIII. Wiedergutmachungen (Reparationen); IX. Finanzielle Bestimmungen; X. Wirtschaftliche Bestimmungen; XI. Luftschiffahrt; XII. Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen;XIII. Arbeit; XIV.Verschiedene Bestimmungen.

Verwendete Literatur:

Roland Banken, Die Verträge von Sèvres 1920und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch dieFriedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei (Geschichte der Internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert 5), Münster 2014.

Deutschösterreichische Friedensdelegation 1919, Bericht und Tätigkeit der deutsch-österreichischen Friedensdelegation und St. Germain-en-Laye, (379 der Beilagen zur Konstituierenden Nationalversammlung).

Marion Dotter, Die Tiroler Frage in St.Germain und die Folgen, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 9 (2019), Heft 2, S. 352-361.

Gerhard Hafner, Der Staatsvertrag von St.Germain 1919 – die völkerrechtliche Grundlage der Republik Österreich, in: Gerhard Hafner/Karl Hren/Heinrich Neisser/Martin Pandel/Jürgen Pirker/Günther Rautz/Kathrin Stainer-Hämmerle/Martha Stocker (Hrsg.), Probleme und Perspektiven des Volksgruppengesetzes. 100 Jahre nach der Kärntner Volksabstimmung, Klagenfurt 2020, S. 99-115.

Herbert Kalb, Minderheitenschutzrechte und der Vertrag von St. Germain-en-Laye - ein (rechts-)historischer Überblick, in: zeitgeschichte 46 (2019), Heft 3, S.343-370.

Helmut Konrad, Die Neuordnung Europas und der Welt 1919-1922, in: Hafner et.al, Probleme und Perspektiven desVolksgruppengesetzes, S. 69-77.

Richard Lein, Die „Burgenlandnahme“1919-1924, in: Maximilian Graf/Alexander Lass/Karlo Ruzicic-Kessler (Hrsg.),Das Burgenland als internationale Grenze im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2012,S.1-43.

Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden.Versailles und die Welt 1918-1923, München 2018.

Margret MacMillan, Die Friedensmacher. Wieder Versailler Vertag die Welt veränderte, Berlin 2018.

Martin Moll, Die „blutende“ Wunde im Süden.Eine neue Grenze entsteht, in: Alfred Ableitinger (Hrsg.), Bundeslandund Reichsgau. Demokratie, „Ständestaat“ und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945, (Geschichte der Steiermark 1), Wien 2015, S. 298-316.

Thomas Olechowski, Das „Anschlussverbot“ im Vertrag von St. Germain, in: zeitgeschichte 46 (2019), Heft 3, S. 371-386.

Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Tübingen 2020, S. 226-234.

Christian Pippan, Die völkerrechtlichen Konsequenzen des Vertrages von St. Germain, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 9 (2019), Heft 2, S. 498-516.

Laura Rathmanner, Die Reparationskommission nach dem Staatsvertrag von St. Germain, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 6 (2016), Heft 1, S.74-98.

Laura Rathmanner, Kommissionen, Ausschüsse,Tribunale: Internationale Einrichtungen im Staatsvertrag von St. Germain, in:Beiträge für Rechtsgeschichte Österreichs 10 (2020), Heft 1, S. 87-123.

Hans-Jürgen Schröder, Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain 1919–1920, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 9 (2019), Heft 2, S. 332-351.

Arnold Suppan, Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas in den Verträgen von St. Germain und Trianon, in:Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg Teil 2: Vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zum neuen Europa der Nationalstaaten, Wien 2016, S. 1257-1341.

Arnold Suppan, Saint-Germain-en-Laye 1919:Die imperialistische Neuordnung Ostmitteleuropas auf der Pariser Friedenskonferenz, in: ÖAW (Hrsg.), Akademie im Dialog|16. 100 Jahre Vertrag von Saint-Germain, (Akademie im Dialog 16), Wien 2019, S. 5-31.

Arnold Suppan, Jugoslawien und Österreich 1919-1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld, Wien 1996, S.602-656.

Martin Wutte, Kärntens Freiheitskampf 1918-1920,Klagenfurt 1922.

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